„Zur politischen Kultur in Japan“ – Eine Diskussion über das Fünfeck der Atompolitik Japans

Der Thomasius Club lud am 22. Februar 2012 in die Südvorstadt Leipzigs, um über die politische Kultur Japans zu sprechen. Hintergrund der Auseinandersetzung war die Dreifachkatastrophe von Fukushima und die neuen Protestbewegungen der vermeintlich unpolitischen Japaner. Ein uriges Ambiente und bequeme Sitzgelegenheiten zierten den Veranstaltungsraum. Eine Ausstattung, wie es sich für die monatlichen Gespräche des Thomasius Clubs gehört. Speziell für dieses Thema eingeladen wurde Steffi Richter, Professorin und Lehrstuhlinhaberin der Japanologie an der Universität Leipzig. Ihr Schwerpunkt: „Gesellschaft und Kulturen im neuzeitlich-modernen Japan“. Begleitet und angetrieben wurde die Diskussion von den Moderatoren Bettina Kremberg und Ulrich Johannes Schneider. Lasst uns diskutieren.

Ein Foto der Gesprächsteilnehmer: v.l. Bettina Kremberg, Steffi Richter, Ulrich Johannes Schneider. (Thomasius Club)

Im Schatten des Gesprächs stand der baldige Jahrestag der Katastrophe von Japan. Frau Richter selbst versuchte zu Beginn die Auswirkungen dieses Unglücks außerhalb der Grenzen Japans zu verdeutlichen. Für sie als Japanologin war der 11. März 2011 ein tiefer Schock der sie bis heute zeichnet. Fällt Japan in einem Gespräch, spielen sich die Geschehnisse der Katastrophe erneut ab. So weist sie auch am 22. Februar auf jene dramatischen Tage hin. „Eine Katastrophe auf zwei Ebenen“, versucht sie zu charakterisieren: institutionell und wissenschaftlich. Die Leipziger Japanologie machte sich Sorgen um ihre Studenten in Japan. Groß war die Erleichterung, als die jungen Japanologen unversehrt ihren Fuß nach Deutschland setzen konnten. Doch der Forschungsschwerpunkt änderte sich.

In den ersten Wochen nach der Katastrophe war es schwer, einen klaren Gedanken zu sammeln. Wie soll es weitergehen? Die Massenmedien berichteten unentwegt von der Atomkatastrophe in Fukushima. Eine einseitige Berichterstattung folgte auf die nächste. Das Ziel musste es sein, neue Perspektiven zu eröffnen. Die Basis für Frau Richters aktuelles Projekt war geschaffen. Eine Kooperation der Japanologien von Leipzig, Frankfurt und Zürich schuf die Textinitiative Fukushima. Der Leitgedanke war, spezielles Wissen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, das mangels des eigenen Wissensstands verwehrt wurde. Nicht etwa das Aufdecken von Verheimlichungen der Regierung Japans ist die Aufgabe dieser Initiative, sondern das Übersetzen japanischer Protestaktionen, Texte und Bücher. Die deutsche Öffentlichkeit sollte informiert werden. Ein ungeheurer Aufwand stand den Japanologen bevor, zu denen sich die Studenten höheren Semesters aus eigenem Engagement heraus verpflichtet fühlten.

So betont Frau Richter die gemeinsame Anstrengung der Studenten, die bis heute auf 30 Übersetzungen zurückblicken kann. Als Material stand zumeist japanischer Pop-Protest zur Verfügung. Aufbegehrende Videos japanischer Künstler ziert das Internet und alle stimmen sie in einen Anti-Atomkraft-Kanon ein. Die Protestbewegung Japans beginnt sich zu entfalten, doch eine soziale Bewegung ist es noch lange nicht. Die Proteste sind politisch, zeigen aber wenig Bestand und verflüchtigen sich. Für eine soziale Bewegung, die den Anti-Atomkraft-Forderungen der Japaner Auftrieb verleihen würde, muss sich diese Protest-Bewegung in den Alltag integrieren. Sie muss an Vielfalt gewinnen und ein Markenzeichen der Gesellschaft Japans werden. Bis dieser Zustand erreicht ist, muss das japanische Volk noch viele Hürden meistern. Die Berechtigung der Textinitiative bleibt, denn sie gibt ein Bild Japans, dem wir in den Massenmedien nicht begegnen.

Anti-Atomkraft-Protest in Tokio am 16. November 2011.

Einer weiteren Thematik schenkte Frau Richter in diesem Gespräch Beachtung. Das „Eiserne Dreieck“, wie wir es schon in unserem Einstieg zu Fukushima 24/7 behandelt hatten. Die Interessenverflechtung von Politik, Wirtschaft und dem Staat in Form der Bürokratie. Doch die Professorin hatte noch eine vierte Ecke für das Dreieck, die Gefälligskeitswissenschaftler. Eine Gruppe von Wissenschaftlern, die zugunsten eines finanziellen Vorteils die Machenschaften des Staats befürworten, so fraglich und riskant sie auch sein mögen. In den 1960ern war die Nuklearisierung der Stromindustrie Japans allerdings eine rein politische Entscheidung. Die Wirtschaft fand keinen Gefallen an den kostspieligen Atomkraftwerken. Zu groß waren die Investitionen in neue Sicherheitssysteme. Doch die Politik gab den Anstoß und was die Investitionen in Sicherheit angeht, sehen wir seit dem späten 20. Jahrhundert weltweit durch die Stör- und Unfälle von Kernkraftwerken.

Nun musste man dem Volk die riskante Technologie schmackhaft machen. Vertrauen sollte geschaffen werden. Was wäre da nicht besser, als ein japanischer Comic? Aus seiner deutschen Übersetzung lässt der Cartoon-Charakter Astro Boy keine Rückschlüsse auf Atomkraft zu. Dass der Roboterjunge als Heldenfigur im Kinderprogramm Atomkraft propagiert, ist schwer zu glauben. Doch mit Tetsuwan Atomu, die korrekte Übersetzung wäre „Eisenarm Atom“, hört der Roboter auf seinen Original-Namen. Tetsuwan Atomu erschien von 1952 bis 1968 im Manga-Magazin Shōnen. Ab 1962 begann die Produktion des gleichnamigen Animes, der 1980 und 2003 durch weitere Folgen ergänzt wurde. Hinzu kamen Kinofilme, Videospiele und eine Fülle von Merchandise-Artikeln, die dem japanischen Volk die Atomkraft schmackhaft machen sollten. Immerhin sorgt sich der kleine Atom-Boy um die Erhaltung von Frieden und setzt sich gegen Krieg und Unrecht ein. Was kann es nicht besseres geben, als eine sichere, verlässliche Technologie⸮

Zum Ende der Diskussion kam Frau Richter auf den engagierten Journalisten Suzuki Tomohiko zu sprechen. Tomohiko beschäftigt sich intensiv mit dem Abgrund der japanischen Gesellschaft und stellte die Verflechtung der Atomindustrie mit der japanischen Mafia dar, auch als Yakuza bekannt. So mutiert die vermeintliche Dreiecksbeziehung zu einem gut organisierten Fünfeck. Die Aufgabe der Yakuza liegt darin, Arbeitskräfte für die Säuberung von Atomreaktoren und speziell für die Aufräum- und Reparaturarbeiten in Fukushima I zu verpflichten. Ein ernstes Thema, dass gerne verschwiegen wird. Die aus ihrer Existenznot kooperierenden Arbeiter tragen den Namen „Wegwerfarbeiter“. Menschliches Kapital für gesundheitsgefährdende Arbeiten. Die Bezahlung gleicht purem Spott. Bei einem Job, der die Lebenserwartung der Betroffenen drastisch senkt. Etwa 80.000 dieser „AKW-Gipsy“ existieren in Japan. Von einem japanischen Phänomen ist allerdings abzusehen. Wer in Japan als „Wegwerfarbeiter“ sein Leben bewältigt, trägt in anderen Ländern ähnliche Bezeichnungen. Frankreich verfügt über schätzungsweise 30.000 sogenannter Atom-Nomaden. Und selbst Deutschland zählt bereits 24.000 Menschen, die einen Namen tragen, der im Sprachgebrauch schon zum Alltag gehört: Leiharbeiter.

Journalist Suzuki Tomohiko (AFP)

Es bleibt die Aufgabe der Textinitiative, mit ihrer Internetpräsenz Informationen an die Öffentlichkeit zu tragen, die aufgrund des eigenen Wissensdefizits der Menschen unsichtbar bleiben. Die Massenmedien konzentrieren sich längst nicht mehr auf den Unglücksfall Fukushima. Spätestens am Jahrestag der Katastrophe wird der Hauptstrom der Ereignisse erneut aufgearbeitet und die Öffentlichkeit mit dem Mainstream an Informationen versorgt, den sie ohnehin schon kennt. Die Informationen am Rande sind nur marginal verteilt. Die Kanäle, um an sie zu gelangen, sind rar gesät.

Aus dem Publikum kam die These, allein 70 Prozent der weltweiten Medienberichte über Fukushima stammen aus Deutschland. Es ist ein Einwurf, der nicht nur die scheinbare Atom-Hysterie der Deutschen in Betracht zieht, sondern umso mehr das Interesse nach Aufklärung und Diskussion. Der Einwurf der Moderatorin Bettina Kremberg kam zugleich, ob die Textinitiative Fukushima nicht Informationen aus dem Deutschen übersetzen könnte, um der desaströsen Informationspolitik Japans entgegenzuwirken. Ein Vorschlag, dem Frau Richter nichts entgegenzusetzen hätte. Doch die Arbeit ist zu aufwendig, als dass sie von einem Team aus wenigen engagierten Studenten bewältigt werden könnte. „Eine Krise des investigativen Journalismus.“ Das Schlusswort des Abends.

[Die gesamte Unterhaltung ist als Audio-Datei unter diesem Link verfügbar.]

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